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28. November 2016

Monster

Ein Zeitungsfoto. Es zeigt einen Kindersoldaten, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Mit seiner Maschinenpistole in den Händen lehnt er an einer Hauswand in einem Dorf, irgendwo in Afrika, und schaut mit unergründlichem Blick in die Kamera.

Trotz der Schusswaffe strahlt der Junge keinerlei Aggressivität aus. Aber was werden die Dorfbewohner wohl bei seinem Anblick empfunden haben? Bekanntlich lässt etwa Joseph Konys Terrorgang mit dem schönen christlichen Namen „Lord´s Resistance Army“ (LRA) Kinder in den von ihr überfallenen Dörfern häufig nur dann am Leben – und nimmt sie auf –, wenn sie zuvor ihre eigenen Eltern oder Geschwister umgebracht haben.


Den Dorfbewohnern dürfte also klar gewesen sein, dass da jemand vor ihnen stand, der sich längst aus ihrer Gemeinschaft, von ihren Werten verabschiedet hatte. Der zu einem Wesen geworden – gemacht worden – war, das vielleicht nur noch äußerliche Ähnlichkeit mit ihnen hatte. Ein Mensch, und gleichzeitig ein Alien. Ein Kind, und gleichzeitig eine unberechenbare Gefahr.

Wir externalisieren das Böse gern: Stephen Kings Clown-Monster aus „Es“, der weiße Hai, das Ungeheuer in „Cloverfield“. Wesen, die nichts „Menschliches“ haben (ehrliche one-track minds also, keine zivilisationsimprägnieren Heuchler mit postfaktischem Gefühlsleben). Aber auch King Kong mit seiner unglücklichen Liebe zu Ann, und Ridley Scotts Alien, eine Mutter, die verständlicherweise ihre Brut beschützen will. Dennoch: Das Alien bleibt Bestie, und wir bleiben Ripley.

Wenn Kinder als „Monster“ ins Rennen geschickt werden, ist unsere Abwehrzentrale schon stärker gefordert. Schließlich sind sie Fleisch von unserem Fleisch, sie sind wir, sie sind die Zukunft. Deshalb müssen sie wenigstens so abgrundtief böse sein wie Macaulay Culkin in dem Film „The Good Son“ (dt. „Das zweite Gesicht“). Oder besser noch Kuckuckskinder, von Außerirdischen übernommene Hüllen wie in „Village of the Damned“ (dt. „Das Dorf der Verdammten“), die man getrost mit Bomben und Raketen traktieren kann.

Im richtigen Leben ist die Sache nicht so einfach. Kindersoldaten sind Täter und Opfer, schuldig und unschuldig zugleich. Wie auch die Kinder und Jugendlichen, die 2005 in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois Autos in Kerzen verwandelten und 2011 mehrere englische Städte aufmischten. Oder die sich heute von Islamisten Sprengstoffgürtel umbinden lassen. Hintergrund und Auslöser waren und sind stets traumatisierende Ereignisse: In Frankreich der Tod zweier muslimischer Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei, in England die Erschießung eines unbewaffneten Schwarzen bei seiner Festnahme. Oder die amerikanischen Drohnenangriffe auf angebliche Terroristen, bei denen immer wieder Unschuldige ums Leben kommen.

Darum sind die fiktiven Killerkinder in „Der dunkle Raum“ (die Kiks, wie sie genannt werden) auch keine Monster, sondern ganz normale Jungen und Mädchen, die jedoch, einmal „getriggert“, jederzeit „ausrasten“ können. Schuldig und unschuldig zugleich. Täter und Opfer.

Wie würden wir, die erwachsenen Bewohner unseres zivilisierten Weltdorfs, wohl darauf reagieren, wenn wir mit einer solch unberechenbaren Gefahr konfrontiert wären? Wenn Kontrollwahn auf Kontrollverlust träfe? Wenn unsere Zukunft plötzlich zu unserer Nemesis würde?

Wir sind die Vergangenheit und die Gegenwart. Wir tragen mehr oder (meist) minder die Verantwortung dafür, dass die Welt so ist, wie sie ist. Das, zumindest, unterscheidet uns von den Kindern: Sie können nichts für die Umstände, unter denen sie aufwachsen.

Was also sieht der Kindersoldat, was sehen die Killerkinder, wenn sie uns ins Gesicht schauen? Vielleicht, wer das wahre Monster ist.