zurück zu den Ansichtssachen

11. Oktober 2017

Der Rattenfänger von Ripoll

17. August 2017: Ein schmächtiger junger Mann setzt sich ans Steuer eines gemieteten weißen Fiat-Lieferwagens, fährt in Schlangenlinien mehr als 500 Meter weit über die Rambla von Barcelona und mäht Dutzende von Passanten nieder. Andere junge Männer rasen in Cambrils, unweit von Barcelona, mit einem PKW in eine Menschengruppe. Warum? Weil sich einige ihrer Spießgesellen kurz zuvor beim Hantieren mit 120 Butangasflaschen versehentlich selbst in die Luft gesprengt haben. Plan B also, ein Akt der Verzweiflung. (Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie Plan A in die Tat umgesetzt hätten.) Auf der Flucht ersticht der junge Mann in Barcelona einen weiteren Menschen, bevor er schließlich von der Polizei erschossen wird. Bilanz der Anschläge: mehr als 120 Verletzte und 24 Tote, unter ihnen acht der (vermutlich) zwölf Attentäter.


Elf von ihnen, darunter einige Minderjährige, stammten aus Ripoll, einem idyllischen 11000-Seelen-Nest am Fuße der Pyrenäen. Sie gehörten dort zur marokkanischen Community und galten allesamt als vorbildlich integriert: Sie „sprachen sowohl sehr gut Katalanisch als auch Spanisch, hatten vor Ort Freunde, beteiligten sich am sozialen Leben ihrer Gemeinde, spielten Fußball, mochten Autos und HipHop-Musik, waren nett und eher zurückhaltend, keine schlechten Schüler und nicht einmal besonders arm“ (taz - die tageszeitung); „Manche der Jungs wurden hier geboren, andere sind hier aufgewachsen, alle haben hier die Schule besucht. Manche waren bekannt dafür, dass sie an von der Stadtverwaltung angebotenen Gruppen teilgenommen haben. Sie waren völlig unauffällig.” (stellvertretender Bürgermeister); „Ganz normale Jungs“ (Mitarbeiterin des Bürgermeisters); „Piloten hätten die Jungen später einmal werden wollen, Arzt, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation“ (Sozialarbeiterin).

Und dann, wie aus dem Nichts, kommt der als Drogenschmuggler verurteilte Imam Abdelbaki Es Satty daher, der Rattenfänger von Ripoll, und verwandelt sie binnen zwei Jahren in islamistische Mord- und Selbstmordmaschinen.

Man muss sich das also wohl ähnlich vorstellen wie in Stephen Kings In einer kleinen Stadt: Das Böse kommt auf leisen Sohlen und injiziert auf diabolische Weise („Gehirnwäsche“, die Welt) das Gift der Zwietracht ins harmonische Miteinander einer heilen Kleinstadtgemeinschaft.

Schaut man ein bisschen genauer hin, bekommt das Heile-Welt-Bild allerdings Risse (wie ja auch in Kings Roman). Es fängt schon damit an, dass in der Presse stets von „Marokkanern“ die Rede ist oder von einer „Verbindung nach Marokko, wo einige der Attentäter geboren wurden und woher alle acht stammten“ (taz). Das soll wohl besagen, dass sie nicht eingebürgert waren: In Spanien geborene Ausländerkinder können die spanische Staatsbürgerschaft beantragen, müssen dann aber in der Regel auf ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft verzichten. Selbst wenn die elf in Spanien geboren und/oder aufgewachsen und „gut integriert“ sind, bleiben sie also „Marokkaner“: „Wir waren für die hier doch immer die ‚Moros‘ (auf Deutsch: Mauren, also Araber)“, zitiert die „Welt“ einen Verwandten zweier Brüder aus der Terrorgruppe. „In der Schule waren wir bloß die Moros, und die Mädchen wollten nicht mit uns ausgehen. Und die Erwachsenen glaubten, dass wir Haschisch verkaufen.“ Der siebzehnjährige Moussa Oukabir, einer der Täter, schrieb schon mit fünfzehn Jahren, wenn er über die Welt herrschte, würde er „die Ungläubigen töten und nur die Muslime am Leben lassen, die der Religion folgen“. Merke: Wer in den Wald spuckt, braucht sich nicht zu wundern, wenn dieser zurückspuckt.

Merkwürdig vage bleiben die Presseberichte, was die berufliche Situation der Täter betrifft.„Die meisten von ihnen hatten oder machten Ausbildungen im mechanischen Bereich.“ (taz) Aber was machten die bereits Ausgebildeten? Einer von ihnen – die „Welt“ und die „taz“ sind sich nicht einig, welcher – arbeitete „bei einer Metallverarbeitung“. Wie weit ist der Weg vom („marokkanischen“) Schweißer zum („spanischen“) Arzt oder Piloten? Und die anderen? Hatten sie halbwegs feste Jobs? „Wie so viele junge Leute in Spanien hatten sie manchmal einen Job und manchmal nicht“, vernebelt die „Welt“ die Sache. 35% der arbeitenden Spanier verdienen weniger als 600 Euro im Monat. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt noch immer bei knapp 40%. Ist die Spanierwerdung – und damit die Aufgabe der eigenen, alten Identität – trotz aller noch so gut gemeinten Initiativen der ripollschen Kommunalverwaltung da wirklich eine Alternative?

Integration ist eben nicht einmal das halbe Leben.

"Wir verstehen jetzt, dass jeder radikalisiert werden kann", zitiert die „Zeit“  den Direktor der Beobachtungsstelle für nationale Sicherheit in Madrid. Missverstehen wir ihn mal absichtlich (selbstverständlich meint er mit „jeder“ nur die Muslime): Angesichts dieser Verhältnisse ist es ein Wunder, dass es nicht noch viel mehr Anschläge gibt. Bedanken können sich die Spanier dafür wohl bei der linken Bewegung „Podemos“, die in der Altersgruppe der 18-24jährigen auf einen Stimmenanteil von 44% kommt.

Natürlich kann man Podemos nur wählen (sofern man denn will), wenn man die spanische Staatsbürgerschaft besitzt.

Viele Zeitgenossen (man lese etwa die zahllosen Kommentare zu den einschlägigen Artikeln in der „Welt“) möchten solche unbequemen Wahrheiten lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Zu ihnen gehört auch der französische Soziologe Olivier Roy. Attentäter wie diese, darf er in der taz unangefochten schwafeln, „hassen nicht nur westliche Gesellschaften, sondern die Gesellschaft an sich. …  Es ist eine No-Future-Generation. Es ist eine ‚Born to kill‘-Generation. Diesen Hass auf die Gesellschaft und die Welt, den finden wir auch bei den Highschool-Attentätern von Columbine und anderen Amokläufern. Mit ihnen teilen diese Dschihadisten eine narzisstische Ästhetik der Gewalt und eine moderne, nihilistische Weltsicht des Todes. … Wir müssen sie wie Militante behandeln. Nicht wie Kranke, die man kurieren kann.“

So erklärt man kurzerhand eine ganze Generation junger Muslime zu Terroristen. Auf „born to kill“ folgt dann „shoot to kill“. In einem Punkt hat Roy allerdings recht: Aus der Wut über die konkreten Lebensumstände wird manchmal ein Hass, der vor nichts mehr Halt macht. Mag sein, dass sich die Attentäter von Barcelona und Amokläufer wie die von Columbine darin gleichen.

Aber wer oder was ist da krank? Die Täter? Die Anstifter? Mit Sicherheit doch die Verhältnisse, die Kinder und Jugendliche zu Mördern werden lassen – Verhältnisse, die sie selber nicht zu verantworten haben. Und Leute wie Roy mit ihrer kaum verbrämten Rübe-ab-Mentalität.

Die Sage vom Rattenfänger (die Figur selbst ist historisch nicht verbürgt) geht übrigens auf den Kinderauszug im Rahmen der sogenannten „deutschen Ostsiedlung“ Mitte des 12. bis Anfang des 14. Jahrhunderts zurück. Viele junge Hamelner haben damals ihre Heimat verlassen. Sie sahen dort keine Perspektive mehr.