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09. August 2020

Grabenzieher und Brückenbauer

2017 stellt die weiße Künstlerin Dana Schulz im New Yorker Whitney-Museum ein Gemälde aus, das den von weißen Rassisten ermordeten Emmett Till zeigt. Daraufhin fordern knapp drei Dutzend Künstler in einem offenen Brief, das Gemälde solle zerstört werden: Es sei inakzeptabel, dass "ein weißer Mensch das schwarze Leid in Profit und Spaß verwandelt".

Im Frühjahr 2020 verzichtet die schwarze Schauspielerin Halle Berry – wie zwei Jahre zuvor schon ihre weiße Kollegin Scarlett Johansson – nach heftiger Kritik darauf, eine Transgenderfigur zu spielen. Als Cis-Frau, so Berry zerknirscht, hätte sie diese Rolle nicht in Betracht ziehen sollen; die Transgender-Community müsse die Gelegenheit haben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.

Im "Freitag" vom 16.07.20 wirft der Rezensent des Buches "Wir müssen über Rassismus sprechen" dessen weißer Autorin Robin DiAngelo vor, ihr Wissen basiere "auf den jahrelangen mühseligen Forschungen von BiPoC-Autor*innen … DiAngelo verwandelt deren Erkenntnisse in einträglichen Gewinn, sei es als symbolisches, kulturelles oder ökonomisches Kapital. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sie diese Form des strukturellen Rassismus in ihrer Publikation mitreflektiert hätte."

Abgrenzung und Abschottung. Gräben um eine Kultur ziehen, um deren "Identität" zu bewahren: Während die rechtradikalen Identitären von "Überfremdung" faseln, reden die neuen "links"-identitären Jakobiner – wenn auch mit anderen Intentionen - von "kultureller Aneignung". Gemeint ist die angeblich unreflektierte, respektlose und profitgierige Übernahme kultureller Topoi durch Außenstehende. Dahinter steckt die Vorstellung, die Kultur einer (unterdrückten) Gruppe – ihre Geschichte, ihre Wissenschaft und Kunst - wäre deren exklusives Eigentum, unterstünde ihrer Verfüngungsgewalt und dürfte eigentlich nur von ihren eigenen Mitgliedern "genutzt" werden.


"Kann ein Mann aus der Sicht einer Frau schreiben? Kann ein Schwarzer aus dem Blickwinkel eines Weißen schreiben und so weiter?", fragt Jeffrey Eugenides in derselben Ausgabe des "Freitag". "Meine Antwort darauf ist, dass Schriftsteller über alles schreiben können, was sie wollen, solange sie es gut machen. Ich bin gegen das neue Edikt: Bleiben Sie in Ihrer Spur. … Ist es nicht albern, Schauspielern zu sagen, sie sollten nur sich selbst spielen? `Stay in your lane´ annulliert Shakespeare und Tolstoi."

Und die kulturellen Brückenbauer par excellence, die Literaturübersetzer*innen? Sollen auch sie lieber "in ihrer Spur" bleiben? Dürfen Männer dann noch die Werke von Frauen übersetzen? Darf ein weißer Übersetzer wie Hans-Ulrich Möhring eine schwarze Schriftstellerin wie Zora Neale Hurston ins Deutsche übertragen, oder eine weiße Übersetzerin wie Evelyn Steinthaler einen schwarzen Schriftsteller wie Hurstons Zeitgenossen Langston Hughes?

Was wären Pop und Rock ohne den Blues? Wahrscheinlich nicht mal Country. Als Paul Simon "Bridge Over Troubled Water" schrieb, wurde er von einer Gospelgruppe beeinflusst und experimentierte mit entsprechenden Harmonien. Sonst gäbe es dieses grandios-kitschige Trostlied zweier jüdischer Jungs aus New York für alle einsamen Seelen dieser Welt vermutlich gar nicht. "All your dreams are on their way. See how they shine." On their way, hinaus ins Offene, leuchtend. Wie wohl die Träume der kulturellen Türwächter beschaffen sein mögen? Man will es eigentlich gar nicht wissen. Und auch nicht, was sie von Aretha Franklins Cover-Version des Simon & Garfunkel-Songs halten …

Brückenbauer sind auch die Mitglieder von Yo-yo Mas Silk Road Ensemble. Ihr Album "Sing Me Home" wirkt, ebenso wie "The Music of Strangers", Morgan Nevilles grandioser Dokumentarfilm über das Ensemble, wie ein einziger Gegenentwurf gegen das neue Schubladendenken. So singt darauf etwa die Folk-Sängerin Rhiannon Giddens, Tochter eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter, den amerikanischen "St. James Infirmary Blues" (der laut Wikipedia wiederum auf einem britischen Folksong des 18. Jahrhunderts beruht) zu einem von Roma-Musik inspirierten Arrangement. "At Silkroad we build bridges", schreibt Yo-yo Ma in den Liner Notes. "In the face of change and difference, we find ways to integrate and synthesize, to forge relationships, and to create joy and meaning."*

Brücken bauen heißt keineswegs, die "aufgewühlten Gewässer" mit dem Öl der Harmonie glätten zu wollen, zum Beispiel mit der Binse "All Lives Matter", die der "Black Lives Matter"-Bewegung die Spitze abbrechen soll. Wenn wir Ausbeutung und Unterdrückung, sexuelle Diskriminierung und rassistische Gewalt in den USA wie auch in Deutschland bekämpfen wollen, geht das nur mit der Solidarität von Menschen aller Schichten und sexuellen Schattierungen, von Schwarz und Weiß und Gelb und Braun (und meinetwegen auch allen anderen Farben des Regenbogens).

Kunst und Kultur können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie sind nicht hermetisch und exklusiv, sondern leben von der Begegnung, vom Austausch, von gegenseitiger Befruchtung. In den Safe Spaces der "Identität" hingegen drohen Austrocknung und Erstarrung –kulturelle Monochromisten finden dort einen Nährboden für Größenwahn und Autoritarismus. Die lebendigen Kulturen farbiger Menschen brauchen jedoch keine Schutzgräben. Und Schützengräben schon gar nicht.

*frei übersetzt: "Bei Silkroad bauen wir Brücken. Angesichts einer in steter Veränderung begriffenen Welt mit lauter unterschiedlichen Menschen und Kulturen streben wir nach Integration und Synthese, wir schmieden Beziehungen und versuchen, etwas Sinnvolles zu erschaffen, das uns und anderen Freude bereitet."