Peter Robert
Dunkler Raum
Was war nur mit den Kindern los?
„Sie schrien nicht, sie tobten nicht, sie schlugen nicht wild um sich. Sie handelten kalt und zielstrebig, und ihr Ziel war es, das Opfer zu töten. Auch durch Drohgebärden ließen sie sich nicht abschrecken. All das machte sie zu echten Angstgegnern, denn nur wenige Eltern oder Erwachsene waren bereit, aggressive Kinder körperlich auszuschalten. Aber wenn sie es nicht taten, liefen sie Gefahr, im Leichenschauhaus zu landen.“
Zwei Familien kämpfen um ihre Existenz, während die ganze Welt aus den Fugen gerät.
Lutz Helsinger ist überglücklich, als er mit seiner Patchworkfamilie das Hamburger Problemviertel Neuwarder verlassen kann. Seine Nachbarin, die alleinerziehende Regina Adebaye, bleibt mit ihren Kindern in dem von Arbeitslosigkeit und Drogenkriminalität geprägten Stadtteil zurück, wo ihre Familie zwischen Sozialbürokratie und immer aggressiveren Jugendgangs zerrieben zu werden droht. Für Lutz und seine Lebensgefährtin ist der Umzug ins Internat Gut Vogelstein dagegen ein Neuanfang, beruflich und privat – und das Internat scheint ein kleines Paradies zu sein. Aber schon bald kommt es zu sonderbaren „Ausrastern“ unter den Internatszöglingen. Dann häufen sich derartige Vorfälle, bis sie schließlich auf dramatische Weise kulminieren – nicht nur in Neuwarder und Gut Vogelstein, sondern überall auf der Welt. Fast schon zu spät erkennt Lutz, dass keineswegs nur von den „Killerkindern“ Gefahr droht.
Peter Robert – Dunkler Raum
Recife
Recife, Brasilien. 07:20 h Ortszeit
EU VOLTAR, stand in großen, kindlichen Buchstaben auf dem Stück Papier, das vermutlich vom Rand einer Zeitung stammte. SOZINA.
KOM ZURÜK. ALEIN.
Elena Maria do Nascimiento kannte die Handschrift nicht, aber der Zettel lag auf Rodolfos ungemachtem Bett. Ansonsten war das Zimmer der Kinder so leer wie die ganze Wohnung. Rodolfo und Jainara waren nicht da, obwohl sie Ferien hatten.
Unter normalen Umständen hätte Elena sich wahrscheinlich keine allzu großen Sorgen gemacht. Bei ihrem Aufbruch am Vorabend waren die Kinder beide zu Hause gewesen. Wahrscheinlich hätte sie gedacht, dass Rodolfo noch Besuch von einem seiner Freunde aus der Comunidade do Coque bekommen hatte und die Worte auf dem Papierfetzen zu einem Spiel gehörten – obwohl Rodolfo keine Spiele mehr spielte. Und dass Gilmar, dieses versoffene Wrack, anschließend vorbeigekommen war und die Kinder über Nacht zu sich geholt hatte. Wie oft hatte sie ihnen schon gesagt, dass sie ihm nicht aufmachen sollten! Sie wäre zwar wütend, aber eigentlich nicht sonderlich beunruhigt gewesen. Schließlich hatten sie bis vor zwei Jahren alle noch bei Gilmar gelebt.
Dies waren jedoch keine normalen Umstände. Denn neben dem Fetzen Papier lag ein Gegenstand, bei dessen Anblick Elena das Blut in den Adern erstarrte.
Eine schlichte Kette mit einem Anhänger: ein silbernes Kreuz, aber mit geschwungenen Formen und verschlungenen Linien. Fast wie ein Vogel.
Einen solchen Anhänger hatte sie bisher erst einmal gesehen: in der vergangenen Nacht. Vor wenigen Stunden.
Jetzt wusste sie, dass jemand sie beobachtet hatte.
Und dass ihre Kinder entführt worden waren.
Aber wie konnte das sein? Elena steckte das Kreuz in die Hosentasche, ging zur Wohnungstür zurück und untersuchte sie sorgfältig von außen und innen. Keinerlei Einbruchsspuren. Die Entführer mussten brav geklingelt haben, und eines der Kinder hatte ihnen offenbar aufgemacht. Jainara war erst elf; sie ging nachts garantiert nicht an die Tür. Also Rodolfo. Und er kannte die Entführer, sonst hätte er sie niemals eingelassen.
Freunde von Rodolfo. Aus der Favela. Aus Coque. Dafür sprach auch die Orthografie.
Schöne »Freunde«. Hatte sie ihm nicht oft genug gesagt, dass diese Leute kein Umgang mehr für ihn waren? Aber er wollte ja nicht hören.
Sie ging ins Wohnzimmer, vorbei an der niedrigen Couchgarnitur aus cremefarbenem Leder und dem eleganten Holztisch mit den vier feingliedrigen Stühlen, und trat nachdenklich ans Fenster. Die Sonne war schon vor einer ganzen Weile aufgegangen. Gleißend hell stand sie am blassblauen Himmel und ließ das Wasser des Rio Capibaribe funkeln, der tief unter Elena resigniert einen Bogen nach Osten schlug, als hätte er vor der Ilha Joana Bezerra kapituliert, die ihm breitschultrig den Weg nach Süden versperrte.
Ja, so war die Insel. Sie versperrte einem den Weg. Aber Elena hatte nicht vor ihr kapituliert. Ganz und gar nicht.
Sie schaute auf die Dächer und Gassen der Favela hinab, die den nördlichen Teil der Insel einnahm. Sie hasste dieses chaotische Durcheinander, in dem sie geboren und aufgewachsen war, in dem sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hatte, hasste es aus tiefstem Herzen. Die niedrigen Backsteinhütten, die sich unter dem harten Licht wie Schildkröten an den Boden pressten. Die staubigen, unbefestigten Straßen. Der Gestank von Dreck und Hoffnungslosigkeit. Die Armut.
Wenn ihr Hass eine Farbe gehabt hätte, wäre er ziegelrot gewesen, so wie das Meer der Dächer dort unter ihr. Als sie die Insel verlassen hatte und in dieses Hochhaus gezogen war – in eine Wohnung im neunten Stock mit Blick auf die Favela –, hatte jedermann sie für verrückt erklärt. »Du willst mich im Auge behalten, stimmt’s?«, hatte Gilmar augenzwinkernd gesagt. »Warum bleibst du dann nicht gleich hier?« Und Joaquin hatte nur trocken bemerkt, es gebe sicher Wohnungen mit schönerem Ausblick, wenn man schon so viel Geld dafür hinlegen müsse.
Aber für Elena war gerade dieser Blick das Sahnehäubchen auf der Torte. Im ersten halben Jahr hatte sie sich sogar einen Sessel ans Fenster gestellt und es genossen, auf ihre alte Heimat hinunterzustarren, die sich jenseits des Flusses unter ihren Augen duckte. Es fühlte sich an, als hätte sie die Favela besiegt, sich buchstäblich über sie erhoben.
Sie war ihren Weg gegangen. Aber das hatte seinen Preis. Von nichts kam nichts. Skrupel konnte sie sich nicht leisten.
Der Hass half. Deshalb erhielt sie ihn aufrecht. Deshalb schaute sie immer wieder auf die Dächer der Favela hinab.
Und nun war dieses Gesocks von der anderen Seite des Flusses also hierhergekommen und wieder in ihr Leben eingedrungen. Es war, als hätte die Favela die Hand nach ihr ausgestreckt. Einmal Favelada, immer Favelada.
Was wollten sie? Geld natürlich. Was sonst. Für ihr Schweigen. Und für das Leben der Kinder.
Sie betrachtete ihre alte Heimat mit einer Mischung aus Wut, Angst und Erleichterung. Wut darüber, dass dieses Gesindel es wagte, sie zu erpressen. Angst um ihre Kinder und davor, aufzufliegen. Und Erleichterung, weil die Zeugen sich auf diese Weise zu erkennen gaben – und beseitigt werden konnten.
Ja, sie mussten beseitigt werden.
Elena erwog, Joaquin anzurufen. Letztendlich steckte auch sein Hals in der Schlinge. Aber dann ließ sie es bleiben. Wenn es hart auf hart kam, würde Joaquin keine Rücksicht auf ihre Kinder nehmen. Und auf sie selbst auch nicht.
Diesmal musste sie die Sache allein erledigen.
Sie verzichtete darauf, das wenige Bargeld zusammenzukratzen, das sie im Haus hatte. Es würde ohnehin nicht reichen, und da die Banken noch nicht geöffnet hatten, konnte sie jetzt auf die Schnelle auch nicht mehr Geld besorgen. Sie würde sich erst einmal die Forderungen der Entführer anhören und sich vergewissern, dass ihre Kinder noch am Leben waren und dass es ihnen gut ging. Alles Weitere würde sich dann schon finden.
Elena Maria do Nascimiento nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage, setzte sich in ihren silbergrauen Fiat Novo Uno und fuhr los.
Die Straße führte in nordwestlicher Richtung aus der Stadt hinaus. Recife hatte zwar mehr als acht Millionen Einwohner, schmiegte sich aber wie ein Tapioka-Fladen an die Ostküste, sodass Elena das Stadtgebiet schon nach wenigen Kilometern hinter sich gelassen hatte. Um halb neun war sie bereits auf dem Weg in die von kleinen Siedlungen und Zuckerrohrfeldern durchsetzten Waldgebiete von São Lorenço da Mata.
Vor ein paar Stunden war sie genau dieselbe Strecke gefahren, zusammen mit Joaquin und den beiden Kindern auf dem Rücksitz seines schwarzen Geländewagens. In der Regel überließ Joaquin ihr das Steuer, während er auf ihre unfreiwilligen Fahrgäste aufpasste.
Keine Sentimentalitäten, hatte er sie gleich zu Anfang gewarnt. Aber das war nicht immer leicht. Sie dachte an den Jungen mit dem seltsamen Kreuz um den Hals. Dreizehn, vierzehn Jahre alt. Er hatte sie an Rodolfo erinnert.
Aber der Geruch. Ungewaschen und schmutzig. Favela-Gestank. Sie schüttelte sich.
An derselben Stelle wie in der vergangenen Nacht bog sie von der Straße auf eine unbefestigte Piste ab, die in die Hügel führte. Elena fuhr am Saum endloser Zuckerrohrfelder entlang und erreichte schließlich eine mit Caatinga-Gesträuch bewachsene Hochebene. An deren Ende bog sie erneut auf einen noch kleineren, kaum erkennbaren Feldweg ein, der sich am Hang abwärts wand. Schließlich hielt sie an.
Vor ihr lag ein kleines, verfallenes Farmgebäude. Das Dach war abgesackt, die morsche Holztür hing schief in den Angeln. Daneben ein, zwei marode Holzschuppen, ein steinerner Brunnen. Kleine, brachliegende Felder beidseits des Weges, dem Strauchwerk abgetrotzt, das zu allen Seiten mannshoch emporragte.
Ein weiteres Inbild der Kapitulation. Die Bauern hatten den Kampf gegen die Zuckerbarone aufgegeben, deren durstige Pflanzen sie von allen Seiten umzingelten wie grüne Bataillone und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgruben. Wahrscheinlich waren sie in Hütten-Camps entlang der Straße gezogen und hatten sich auf den Zuckerrohrfeldern verdingt, oder sie waren in eine der zahllosen Favelas von Recife abgewandert, um ihr Glück in der großen Stadt zu versuchen. Weitere Gescheiterte in einem Heer von Gescheiterten.
Sie schaltete den Motor aus, blieb im Wagen sitzen und schaute sich um. Stille. Kein Mensch zu sehen. Wo waren sie? In der Hausruine? Im Gebüsch, das die Farm umgab? Nirgends rührte sich etwas. Sie knöpfte das Holster an ihrer Hüfte auf und entsicherte die Pistole, ließ sie jedoch stecken.
Gestern Nacht hatte sie an derselben Stelle angehalten. Joaquin und sie hatten die Jungen aus dem Wagen gezerrt und aufs Feld geschubst.
Joaquin hatte die Kontakte, er besorgte die Aufträge. Sie erledigten sie nachts, in ihrer Freizeit. Elena fragte nicht nach Details. Er wusste, wo sie suchen mussten, er wusste, wo Kameras waren – und wo nicht. Meistens schliefen die Kinder, beduselt von dem Schuster-leim, den sie schnüffelten. Sie schnappten sie sich, packten sie in den Wagen und fuhren mit ihnen hierher.
Es gab zehn Millionen Straßenkinder in Brasilien. Ständig kamen neue hinzu, andere verschwanden. Kaum jemand fragte danach, was aus ihnen geworden sein mochte. Leichen hingegen waren schlecht fürs Geschäft. Sie erregten Aufsehen. Das wollten die Auftraggeber nicht. Sie wollten nur, dass die Kinder verschwanden. Und verschwunden blieben.
Der eine Junge von gestern Nacht war ein solcher Auftrag gewesen. Sie hatten ihn sich in der Altstadt geholt, wo er sein Nachtlager in der Fußgängerzone aufgeschlagen hatte, unter einem der riesigen Schaufenster eines Modegeschäfts: eine dreckige Bastmatte, ein paar Plastiktüten. Elena fragte sich, ob seine verwaisten Habseligkeiten noch immer dort lagen. So etwas wegzuräumen sei nicht ihre Aufgabe, hatte ihr Joaquin erklärt. Sie seien nur für den menschlichen Müll zuständig.
Unterwegs hatten sie dann den anderen Jungen entdeckt. Er lag auf der schmalen, hübsch geschwungenen Grünfläche des Brunnens auf der Praça da Independencia, ein kleines, unidentifizierbares Bündel. »Das da nehmen wir auch gleich mit, wenn wir schon mal dabei sind«, sagte Joaquin und hielt an.
Joaquin war sehr religiös, und manchmal machte er so etwas. Für Gotteslohn, wie er sagte. Es war bekannt, dass der Padre der prunkvollen manuelinischen Kirche, die sich mit ihren zwei Türmen an der Westseite des Platzes erhob, die Straßenkinder vor seiner Kirche verabscheute und manchmal das Wasser des Brunnens abstellen ließ, um sie zu vertreiben. »Ja, auch diese Kinder sind Gäste am Tisch des Herrn«, hatte Joaquin einmal grinsend zu ihr gesagt, auf der Rückfahrt von einer ähnlichen Aktion. »Aber was soll man machen, wenn die Gäste einfach nicht gehen wollen?«
Der Junge schreckte sofort hoch, als Joaquin ihm einen Tritt versetzte, und sah sie an. Seine Augen weiteten sich vor Angst. Sie waren zwar in Zivil, aber er roch die Polizisten an ihnen, so wie Elena die Favela an den Kindern roch. Sie packte ihn an seinem T-Shirt und zog ihn auf die Beine. In diesem Moment fiel ihr zum ersten Mal das geflügelte Kreuz auf, das er um den Hals trug. »Wo bringen Sie mich hin?«, hatte er gefragt, während sie ihn zum Wagen führten. »Weg von hier«, hatte Joaquin nur gesagt.
Jetzt öffnete sie die Tür, stieg aus und blieb neben ihrem Wagen stehen. »Hier bin ich!«, rief sie laut. »Allein, so wie ihr es wolltet! Kommt raus!«
Eine Bewegung hinter den dunklen Fensterhöhlen des Hauses. Sie waren also tatsächlich da drin. Wie viele?
Elena wartete. Und dann kamen sie.
Zuerst ein großer, athletischer Junge von vielleicht achtzehn Jahren mit dunkler Haut und kurzem Kraushaar. Er hielt ein gefährlich aussehendes Kampfmesser mit geschwungener Klinge in der Hand, dessen Griff als Schlagring mit spitzen Stacheln ausgeführt war. Dann ein kleinerer, jüngerer, hellhäutigerer Junge, der einen Klauenhammer ganz unten am Stiel hielt und ihn bedrohlich hin und her schwingen ließ. Und schließlich ein schwarzes Mädchen, sechzehn, siebzehn Jahre alt, mit kahlgeschorenem Schädel und einem Nunchako. Der kleinere Junge und das Mädchen nahmen links und rechts von ihrem Anführer Aufstellung, als hätten sie das für einen Filmauftritt geprobt. Elena konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen.
»Wo sind meine Kinder?«, fragte sie.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, holte der Anführer ein Handy heraus und wählte eine Nummer. Er hielt sich das Gerät ans Ohr und hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Dann nickte er und steckte das Handy wieder weg. Vielleicht hatte er einen Auftraggeber, von dem er Anweisungen erhielt. Oder er hatte einen Posten irgendwo auf der Strecke angerufen, um zu erfahren, ob sie wirklich allein gekommen war.
Vermutlich Ersteres. Die drei waren Moleques, kleine Favela-Ratten, das sah man auf den ersten Blick. Außerstande, so eine Nummer zu planen und durchzuziehen.
Der Kerl mit dem Kampfmesser schaute sich zu der Hütte um und machte eine Handbewegung. Als Erste kam Jainara heraus. Ein etwas älteres Mädchen hielt ihr einen Spitzbohrer an den Hals und schob sie vor sich her. Dann kam ein Junge, etwa im Alter des Anführers, mit Rodolfo heraus. Er hielt ihm ebenfalls ein spitzes Ding an den Hals – es sah aus wie ein Skalpell, aber sie konnte es nicht genau erkennen, weil es größtenteils in seiner massigen Faust verschwand. Jainara und Rodolfo schienen jedoch unverletzt zu sein. Die vier blieben hinter den drei Favela-Ratten stehen.
Elena konnte es kaum glauben. Fünf Kinder, keines älter als achtzehn, sofern sich nicht noch jemand in der Hütte verbarg. Keine Schusswaffen. Mit denen würde sie spielend fertig werden. Aber zuerst musste sie ihre eigenen Kinder in Sicherheit bringen.
»Na schön«, sagte sie. »Kommen wir zum Geschäft. Was wollt ihr?«
»Weg von dem Wagen«, sagte der Anführer.
»Was?«
»Da rüber.« Er deutete auf das Feld.
Elena hob beschwichtigend die Hände und betrat das Feld. Sie konnte noch die Fußspuren sehen, wo Joaquin und sie in der Nacht die beiden Jungen vor sich her gestoßen hatten.
»Halt«, sagte der Anführer. Seine Stimme klang völlig ruhig.
Elena blieb stehen.
»Auf die Knie.«
»Ist das wirklich …« Sie sah, wie das Mädchen hinter Jairana die Spitze des Bohrers tiefer in den Hals ihrer Tochter drückte. »Schon gut, schon gut.«
Sie kniete sich hin und hockte sich dann auf ihre Fersen. Jetzt befand sie sich fast an derselben Stelle, wo erst vor wenigen Stunden die beiden Jungen auf die Knie gefallen waren, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen.
»Wirf deine Knarre rüber. Aber Vorsicht, sonst sind deine Kinder tot.«
Mit behutsamen Bewegungen zog sie ihre Dienstwaffe am Griff aus dem Holster und warf sie zu der Gruppe hinüber. Sie blieb etwa auf halbem Wege liegen.
Der Anführer ließ den Blick von ihr zu der Pistole auf dem Boden schweifen, dann drehte er sich um und herrschte Rodolfo an: »Los, hol sie!«
Was für eine Dummheit. Elena konnte ihr Glück kaum fassen. Während Rodolfo vortrat und an den dreien vorbeiging, schob sie unauffällig die Hand unter ihr Hosenbein und zog die kleine Beretta
Jetfire aus dem Knöchelholster.
Rodolfo blieb stehen, bückte sich und hob die Pistole auf.
Aus dem Augenwinkel sah Elena, dass das Mädchen hinter Jainara ein kleines Stück zur Seite getreten war, um die Ereignisse zu verfolgen. Sie fühlte sich hinter den drei Ratten sicher. Zu sicher.
Jetzt.
Sie riss die Beretta hoch und schoss. Die Kugel traf das Mädchen in den Kopf. Es brach ohne einen Laut zusammen. Jainara blieb reglos stehen.
Elena fuhr zu Rodolfo herum, streckte die Hand aus und rief. »Gib mir die …«, aber dann blieben ihr die Worte im Halse stecken, denn sie sah, dass Rodolfo die Pistole in beiden Händen hielt und auf sie zielte.
Sie starrte ihn einen Moment lang sprachlos an. Seine Miene war völlig ausdruckslos. »Rodolfo«, sagte sie, »was …«
Rodolfo schoss.
Die erste Kugel durchschlug Elenas ausgestreckte Hand und flog an ihrem Kopf vorbei, während ihr Blut und Gewebefetzen ins Gesicht spritzten. Die zweite Kugel traf sie in den Bauch. Sie schnappte nach Luft, krümmte sich zusammen und kippte vornüber.
Keuchend lag sie auf dem Boden. Sie spürte, wie die Finger ihrer anderen Hand brachen, als jemand – das Mädchen mit dem Nunchako – darauf trat und ihr die Beretta entriss.
Und dann sah sie, wie sich die Sträucher neben dem Feld teilten und Kinder unter ihnen hervortraten. Es war ein solch unglaublicher Anblick, dass sie sogar die Schmerzen vergaß, die durch ihren Körper kreischten. Erst einige wenige hier und da, dann immer mehr. Sie drehte mühsam den Kopf und sah, dass auch auf der anderen Seite Kinder aus dem Gebüsch kamen. Zehn, zwanzig, fünfzig, und sie wurden immer zahlreicher. Zehn Millionen Straßenkinder. Aber die konnten doch nicht alle hier sein, oder? Wie hatten all diese Kinder nur die ganze Zeit so still sein können?
Die Kinder bildeten einen Halbkreis und kamen dann auf sie zu. Elena sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie alle zugleich über sie herfielen und sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Hackfleisch verarbeiteten.
Sie versuchte, vor ihnen wegzukriechen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Sie schloss die Augen.
Dann spürte sie Hände an ihrem Körper, an den Armen und Beinen, viele kleine Hände, und plötzlich wurde sie hochgehoben, sie schwebte auf all diesen Händen bäuchlings durch die Luft, und als sie die Augen wieder öffnete, schaute sie in ein schwarzes Loch hinab.
Der Brunnen.
Dann wurde sie losgelassen.
Sie stürzte in die Tiefe.
Und erst jetzt, als sie sah, wie die runde Scheibe aus Licht über ihr rasend schnell kleiner wurde, schrie sie voller Angst und Entsetzen auf, ein gellender, rauer Schrei, denn sie wusste, was dort unten auf sie wartete, und sie begriff, dass die Favela sie sich nun zurückholte, so wie der Junge von der Praça da Independencia sein geflügeltes Kreuz.
Williamstown
Reverend Brooks konnte nicht genau erkennen, was dort vorging. Es hatte den Anschein, als würden Jake und Dinah Miss Defries streicheln. Unzüchtig streicheln. Sie in ihr Liebesspiel einbeziehen. Hände wanderten über ihren mageren Körper, berührten sie überall. Er sah, wie Defries sich wand, und fragte sich unwillkürlich, ob das ein Ausdruck von Angst oder von … Lust war.
Dann geriet Defries plötzlich zwischen die beiden, sodass alle drei wie ein Sandwich – mit Defries als Füllung – nebeneinander auf dem Boden lagen. Dinah ließ von hinten den Arm um ihren Hals gleiten, legte ihr die andere Hand an die Schläfe und machte eine schnelle, kraftvolle Bewegung.
Defries´ Genick brach mit einem lauten Knacken. Ihr Körper erschlaffte.
Brooks stand wie betäubt da. Er glaubte einfach nicht, was er sah. Das konnte unmöglich wahr sein. So etwas gab es nicht.
Er schaute sich hilfesuchend zu den anderen Kindern um, die inzwischen über die Lichtung herangekommen waren.
Sie standen in einem Halbkreis hinter ihm. Brooks erwartete, Abscheu und Entsetzen in ihren Gesichtern zu sehen, aber sie standen in lockerer Haltung da und blickten so gelassen zu Jake, Dinah und Defries hinüber, als geschähe dort etwas vollkommen Selbstverständliches, ja Natürliches.
Und ganz plötzlich schauten sie ihn an. Wie auf einen geheimen Befehl hin setzten sich alle zugleich in Bewegung und kamen auf ihn zu.
Ogoniland
lautes Geschrei in den anderen Booten, dann klatschten weitere Körper ins Wasser. Michael schwamm auf sein Boot zu. Anthony, James und Timothy blickten ihm entgegen.
Der nächste Schlag traf ihn mit voller Wucht von oben auf den Kopf, und mit einem Mal hörte er nichts mehr. Es kam ihm so vor, als würde er in Zeitlupe auf das Boot zuschwimmen. Dann hob James das Paddel und rammte ihm die Vorderkante mit brutaler Gewalt in den Mund. Die stinkende Brühe drang ihm in den Rachen. Er spuckte Ölschleim, Blut und Zähne aus und versank erneut in dem dickflüssigen Zeug. Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, sich wieder nach oben zu arbeiten. Er versuchte, Luft zu holen, und der Ölschleim füllte seine Lungen. Ein paar Mal schlug er noch hilflos um sich, dann verebbten seine Bewegungen. Während er in die Tiefe sank, sah er die Gesichter der Jungen im Boot vor sich. In ihren Mienen war kein Hass gewesen, keine Wut. Gar nichts. Er begriff es nicht.
Bis es endgültig dunkel um ihn wurde, stand Timothys Gesicht vor seinem geistigen Auge. Leer. Gleichmütig. Bar jeden Mitgefühls. Das Gesicht seines zwölfjährigen Sohnes. Das Gesicht eines Fremden.
Gorleben
Vier Erwachsene, drei lebend, einer tot, im Zentrum eines Halbkreises von Killerkindern. Wenn sie angriffen, würden sie keinen Unterschied zwischen Freund und Feind machen.
Im selben Moment merkte er, dass in der Menge der Kiks eine subtile Veränderung vorging. Es war wie ein kaum wahrnehmbares Strudeln, eine innere Bewegung, bei der die Form des Halbkreises jedoch erhalten blieb. Einige traten aus der Mitte heraus nach vorn, andere drehten sich zum hinteren Rand des Halbkreises um. Lutz sah leere, ausdruckslose Gesichter und wusste, dass diese Kinder angreifen würden.
Er legte die Hand an seine Pistole, ließ sie jedoch wieder sinken. Er wollte nicht auf die Kinder schießen. Und es war ohnehin aussichtslos.
Dann schob sich jemand von hinten an ihm vorbei und trat vor ihn. Es war Papaya. Andere bewegten sich seitwärts, bis sie eine Art Mauer vor ihm gebildet hatten. Auch am vorderen Rand des Halbkreises formierte sich eine Kette, mit dem Gesicht zu den Kindern in der Mitte. Die Bewegung in der Menge verebbte.
Killerkinder griffen keine Kinder an.
Lutz begriff es nicht. Natürlich konnte man so etwas trainieren. Aber woher wusste man, wer die „Guten“ und wer die „Bösen“ sein würden?
Dann verstand er. Man wusste es nicht. Alle konnten sowohl das eine als auch das andere sein.
Peking
Ein wüstes Handgemenge brach aus.
Nicht nur Guo Ning sah es auf den beiden großen Leinwänden links und rechts der Bühne. Sämtliche Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens sahen es, außerdem auch all jene, die die Live-Übertragung des Konzerts vor dem Fernseher verfolgten.
Mit einem Mal veränderte sich etwas. Es war wie eine Welle, die von dem Tumult vor der Bühne ausging und durchs gesamte Publikum lief. Guo Ning spürte, dass die Menschen um ihn herum plötzlich ruhig wurden. Es war, als hätte ihre Erregung, ihre aufgestaute Wut von einer Sekunde auf die andere in eine kollektive Entscheidung gemündet. Es war so unheimlich, dass sich die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten.
Auf der Leinwand sah er, dass sich die vordersten Reihen des Publikums hinter den Polizisten schlossen, die in die Menge eingedrungen waren. Es sah aus, als würde eine Amöbe ein Bakterium verschlucken; die Polizisten wurden immer dichter aneinander gepresst. Ning sah, wie sie zu schreien begannen.