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15. November 2021

Feindbilder (Auszug)

Imagine / el pueblo unido

Am Freitag, dem 13. November 2015, saß der deutsch-italienische Pianist Davide Martello abends in einer Konstanzer Kneipe und sah sich das Fußballspiel zwischen Deutschland und Frankreich an, als die Nachrichten von den islamistischen Anschlägen in Paris über den Bildschirm liefen. Noch in der Nacht fuhr er mit seinem selbst konstruierten Flügel die 600 Kilometer nach Paris und spielte tags darauf eine Instrumentalversion von John Lennons »Imagine« vor dem Club Bataclan, in dem 89 Menschen ermordet worden waren. »Das ist ein guter Song. Er enthält all die Worte, die wir in diesem Moment brauchen«, sagte er später in einem Interview auf France 24 English, und ein Kommentar auf YouTube lautete: »Ein Deutscher, der einen britischen Song in Frankreich spielt und auf einem französisch-englischen Kanal spricht. Vielleicht leben wir eines Tages alle zusammen.«
    Zur selben Zeit, als Martello auf diese Weise seine Solidarität mit den Opfern des islamistischen Wahnsinns – den insgesamt 130 Toten, den Verletzten und ihren Angehörigen – zum Ausdruck brachte, hatte die französische identitäre »Linke« schon die wahren Schuldigen ausgemacht. »Wir sind zutiefst erschüttert, aber nicht überrascht«, erklärte die Partì des Indigènes de la République (PIR) und verwies auf die Kriegsführung Frankreichs in Syrien und anderen Ländern sowie auf Rassismus und staatliche Islamophobie.
    Mit ähnlicher Schlagseite hatte der afroamerikanische Schriftsteller Teju Cole zuvor schon zum Anschlag auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« im Januar desselben Jahres mit 12 Todesopfern Stellung genommen. Den damals weit verbreiteten Solidaritäts-Slogan »Je suis Charlie« lehnte er entschieden ab – um die Meinungsfreiheit zu verteidigen, müsse man sich die »rassistischen und islamophoben Provokationen« der Zeitschrift nicht zu eigen machen oder sie gar weiterverbreiten – und entblödete sich nicht, Charlie Hebdo mit einer amerikanischen Neonazi-Gruppe auf die gleiche Stufe zu stellen: Wenn man deren Demonstrationsrecht verteidige, übernehme man damit ja auch nicht ihre Überzeugungen. Obendrein habe die Zeitschrift nach dem Überfall große Geldsummen erhalten. Ins gleiche Horn stieß die identitäre afrodeutsche Wissenschaftlerin Peggy Piesche, die Charlie Hebdo als »rassistisch-antisemitische Satire-Zeitschrift« bezeichnete. »Vergessen oder nicht mal wahrgenommen scheint dagegen das jahrelange Engagement der ermordeten Redakteure gegen Rassismus und Antisemitismus«, schreibt der Politikwissenschaftler Kolja Lindner, für den diese »gravierende Fehleinschätzung« zeigt, »wohin ein derart ausschließlicher Fokus auf Rassifizierung führen kann: Widersprüche können nicht mehr gedacht werden und Kritik (nicht zuletzt am Antisemitismus der Attentäter) wird unmöglich. Mehr noch: derartige Aussagen drohen islamistische Terroristen geradezu in die Nähe antirassistischer Aktivistinnen zu rücken.«
    Das ist auch kein Wunder. Identitärer Antirassismus ist Politik nach Hautfarbe. In diesem Verständnis sind BIPoC – Schwarze, Indigene und »People of Color« – Opfer eines zutiefst rassistischen Systems, in dem alle »Weißen« Rassisten sind. Die Pariser Attentäter waren allesamt BIPoC, die Opfer überwiegend Weiße. Wer sind also die wahren Täter, wer die wahren Opfer?

Lennons »Imagine« kam vor genau 50 Jahren heraus, im September 1971. Zu jener Zeit tobte der Krieg in Vietnam. Anderthalb Jahre zuvor waren die USA in Kambodscha eingefallen, und in den Staaten gab es die bislang größte Antikriegsdemonstration. Im Mai 1970 wurden an der Kent State University vier protestierende Studenten von der Nationalgarde erschossen. Unter diesen Umständen war »Imagine« – Lennon: »buchstäblich das Kommunistische Manifest« – nicht so naiv-harmlos, wie es heute vielleicht klingt: »Imagine all the people sharing all the world«, sang John Lennon und wünschte sich »a brotherhood of man«.
    Genau zwei Jahre später stürzte General Pinochet mit Unterstützung der CIA Salvador Allendes chilenische Unidad-Popular-Regierung, und Allende beging Selbstmord. Kurz vorher hatte die chilenische Folkgruppe Quilapayún auf einer Massendemonstration für Allendes Regierung zum ersten Mal das Lied »El pueblo unido jamás será vencido« gesungen, das danach um die ganze Welt ging. Das vereinte Volk ist unbesiegbar, gewissermaßen die politisch zugespitzte und klassenbewusstere Version von Lennons »brotherhood of man« – schon damals eher eine trotzige Beschwörung als die Wahrheit, aber so viel war immer klar: Einheit ist nicht alles, aber ohne Einheit ist alles nichts.
    Das galt auch für die internationale Solidarität mit dem Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes und gegen den Militärputsch in Chile: Jede*r konnte sich daran beteiligen, überall, ungeachtet des Geschlechts, der Religion oder der Hautfarbe, und das Feindbild war immer klar: der US-amerikanische Imperialismus und seine Handlanger vor Ort, die multinationalen Konzerne, das Militär. Motto: Gemeinsam schaffen wir’s, die Welt zu einem besseren (sozialistischen) Ort zu machen.
    Schön wär’s gewesen.

Die Wiege der Identitätspolitik stand in Boston. Dort wurde 1974 das Combahee River Collective gegründet, eine Gruppe schwarzer lesbischer Feministinnen, benannt nach einem Fluss, an dem ein Trupp afroamerikanischer Soldaten unter Führung der Fluchthelferin und ehemaligen Sklavin Harriet Tubman im Jahr 1863 fast 800 schwarze Sklaven befreit und in Sicherheit gebracht hatte. Die Gruppe forderte eine Diskussion über Rassismus in der amerikanischen Frauenbewegung und schrieb 1978 in einem Statement: »Uns ist klar, dass die einzigen Menschen, denen genug an uns liegt, um sich beständig für unsere Befreiung einzusetzen, wir selbst sind. Unsere Politik entsteht aus einer gesunden Selbstliebe, einer Liebe zu unseren Schwestern und unserer Community, die es uns erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen. Die Konzentration auf unsere eigene Unterdrückung findet ihren Ausdruck im Konzept der Identitätspolitik. Wir glauben, dass die nachhaltigste und vielleicht auch radikalste Politik direkt unserer Identität entspringt und nicht der Aufgabe, der Unterdrückung von jemand anderem ein Ende zu setzen.«
    Klare Worte. Der Blick senkt sich vom Horizont auf den eigenen Bauchnabel. Wenn jeder sich nur noch um sich selbst kümmert, ist schließlich auch für alle gesorgt, nicht wahr?

Obwohl »Imagine« nach 9/11 als »textlich fragwürdig« und »unpassend« auf dem Index von mehr als tausend US-amerikanischen Radiosendern landete, hallt Lennons pazifistische Vision bis heute nach. So hieß es im Januar 2021 in dem zum Weltereignis hochgejazzten Inaugurationspoem der schwarzen Dichterin Amanda Gorman für Joe Biden: »We are striving ... to compose a country, committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.«
    Allerdings konterkarierten die Reaktionen von Gormans antirassistischen Fans in Europa auf die vom niederländischen und katalanischen Verlag ausersehenen Übersetzer*innen des Gedichts dann sogleich Gormans Worte: Der katalanische Übersetzer hatte für sie nicht das richtige Geschlecht, die niederländische Übersetzerin nicht die passende sexuelle Orientierung, und vor allem hatten beide die falsche Hautfarbe: Sie waren weiß. Weiß!
    Tektonisches Beben in der Feuilletonlandschaft: Dürfen jetzt nur noch Schwarze Schwarze übersetzen? Eilige Dementis, aber vermutlich hat damals eine breitere kulturell interessierte Öffentlichkeit in Deutschland erstmals nähere Bekanntschaft mit der Identitätspolitik gemacht. Dass Autor*innen und Übersetzer*innen in erster Linie nach Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Identität gepaart werden sollten, ist identitäres Denken par excellence.
    Denken in Hautfarben: Eine wichtige Spielart der Identitätspolitik ist der identitäre Antirassismus. Dessen Position, kurz zusammengefasst: »Die Weißen« seien schuld an Sklaverei und Kolonialismus und hätten von beidem profitiert. Ihr davon herrührender, nie aufgearbeiteter Rassismus durchsetze auch heute noch die gesamte Gesellschaft und mache schwarze und farbige Menschen erneut oder noch immer zu Opfern. Vor all dem verschlössen die Weißen die Augen. Sie müssten sich jedoch ihrer kolonialistischen Geschichte sowie dem allumfassenden Alltagsrassismus (auch ihrem eigenen) stellen und sich zu ihrer Verantwortung bekennen. (…)